Die Nobelvorlesung von Mo Yan


Gestern nahm Mo Yan seinen Literaturnobelpreis entgegen.

Eigentlich wollte ich dieses Mal wieder nicht über Mo Yan berichten, aber seine Nobelvorlesung vom 7. Dezember in Stockholm lässt doch alles andere so sehr verblassen, dass mir nichts anderes übrig bleibt als seine Vorlesung zum Lesen weiterzuempfehlen. Seine vierzig minütige Rede findet man auf Deutsch übersetzt bei www.nobelprize.org (oder einfach hier klicken). Unten zitiere ich zwei Stellen, die mir besonders gefallen haben.

Beim ersten beschreibt er auf eine verblüffend einfache und doch sehr treffende Weise wie literarische Qualität erzeugt werden kann:

1.

„Ich weiß, daβ jedem Menschen etwas Diffuses innewohnt, etwas, das sich nicht exakt in die Kategorien von Richtig und Falsch, Gut und Böse einordnen läβt. Das ist das weite Terrain, auf dem ein Schriftsteller seinem Talent freien Lauf lassen kann. Solange man in einem Werk diese diffuse Zone, die so voller Widersprüche ist, genau und lebendig zu beschreiben versteht, dann erst geht ein Roman über das Politische hinaus und besitzt eine verfeinerte literarische Qualität.“

2.

„Eigentlich wollte ich mich nicht zu dieser Debatte äußern, doch heute muβ ich hier sprechen, und deshalb will ich ein paar Sätze dazu sagen.

Ich bin ein Geschichtenerzähler, also erzähle ich Ihnen eine Geschichte.

In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich in die dritte Klasse der Grundschule ging, muβten wir uns einmal eine Ausstellung über das Leid unseres Volkes ansehen. Um den Erwartungen des Lehrers zu entsprechen, brachen wir alle in ein großes Geheule aus. Damit der Lehrer sich von meinem Entsetzen überzeugen konnte, wischte ich mir die Tränen nicht aus dem Gesicht. Ich sah, wie einige Mitschüler sich heimlich Speichel über das Gesicht schmierten, damit es aussah, als ob sie weinten. Ein einziger Schüler trug inmitten all der echten und falschen Tränen ein tränenloses Gesicht zur Schau, er gab keinen Ton von sich und barg auch das Gesicht nicht in den Händen. Er starrte uns mit großen Augen erstaunt, vielleicht auch ungläubig, an. Hinterher schwärzte ich ihn bei unserem Lehrer an und der Schüler bekam eine Disziplinarstrafe. Als ich viele Jahre später jenem Lehrer gestand, daβ ich mein Verhalten von damals bereue, erzählte er mir, daβ ich an jenem Tag nicht der einzige gewesen sei, der den Mitschüler angeschwärzt hatte. Dieser Mitschüler ist bereits einige Jahre tot, aber jedes Mal, wenn ich mich an ihn erinnere, bin ich tief beschämt. Dieser Vorfall hat mir eines begreiflich gemacht: Wenn alle weinen, dann sollte es einen geben, der nicht weint. Und wenn das Geheule zudem nur zur Schau gestellt ist, dann ist es umso wichtiger, daβ einer sich dem Weinen verweigert.“

© DIE NOBELSTIFTUNG 2012

Das zweite Zitat kann man als eine Antwort lesen auf seine Ablehnung der Initiative von 134 Nobelpreisträgern. Sie forderten die Freilassung von Liu Xiaobo, dem Friedensnobelpreisträger von 2010. Gerade aus dem letzten Satz des zweiten Zitats finde ich es sehr mutig, dass er sich nicht angeschlossen hat. Schliesslich gibt es viele Wege seinen persönlichen Unmut zu zeigen ohne sich zu prostituieren. Er macht es auf seine Weise mit dem Schreiben seiner Romane und das ist zu respektieren.